Robert Gilcher ist ein Mann der historisch höchst bewandert ist. Er ist in der Westpfalz geboren und 1976 nur nach Niederrad gezogen, weil es sich eben so ergeben hat. Heute kann er sich nicht mehr vorstellen, woanders zu leben. Er hat viele historische Gegebenheiten in Niederrad aufgearbeitet, gerade die Jahre 1933 bis 1945 sind für ihn spannend. In Niederrad veranstaltet er, außerhalb der Pandemie, regelmäßig Stadtteilrundgänge.

TL: Wie kam es zu ihrem Engagement in Niederrad?

RG: Für Geschichte hatte ich mich schon immer interessiert. Damals in der Pfalz, haben sich meine Lehrer leider nicht dafür interessiert, dass es mich interessiert hat. Die haben höchstens mal die Zahlen durchgepaukt. Ich selbst bin 1953 geboren und habe schon verstanden, dass es da Menschen gab, die sichtbare Folgenschäden hatten und das etwas passiert sein musste. Erst mit 16 gab es eine Auseinandersetzung mit dem Thema Nationalsozialismus, als wir einen progressiven Pfarrer bekommen haben und der wurde dann auch gleich mit Fragen bombardiert.

Als ich dann nach Frankfurt kam, begann ich auf Demonstrationen zu gehen und so hat es dann begonnen. Irgendwann hatte ich dann mitbekommen, dass es hier in Niederrad eine Geschichtswerkstatt gab, die hatten ein Archiv, dort konnte man viel nachlesen über die Jahre 1933 bis 1945.

Als dann 1988 Firmen auch hier in Niederrad ihr 50-jähriges Jubiläum gefeiert haben, wurde ich hellhörig. Rechnet man zurück, kommt man darauf, dass 1938 auch die „Arisierung“ stattgefunden hatte und damit vielen Juden ihre Firmen enteignet und an nicht jüdische Deutsche weitergegeben wurden.

Das hatte mich so sehr interessiert, dass ich selbst in die Archive gegangen bin und eigenständig hierzu recherchiert habe.

TL: Sie sind ebenfalls Initiator der Stolpersteine hier in Niederrad. Was hat Sie dazu angetrieben?

RG: Eines Tages kam Hartmut Schmidt von der „Initiative Stolpersteine“ hier nach Niederrad. Er berichtete in der Paul-Gerhardt-Gemeinde, dass er für ein Projekt über evangelische Christen jüdischer Herkunft noch engagierte Personen sucht, die ihm dabei helfen können, das Projekt zu verwirklichen.

Unsere damalige Pfarrerin wusste, dass ich geschichtlich interessiert bin und hat mich dann gleich an Herrn Schmidt weitergeleitet. Nach kurzer Recherche war ich geschockt, wie viele evangelische Christen jüdischer Herkunft und in „Mischehe“ lebende Juden unter dem Nazi-Regime verfolgt und deportiert worden sind.

So fing ich an Stolpersteine hier in Niederrad zu initiieren – für Juden, Zwangsarbeiter und  Widerständler. Wir haben inzwischen 35 Stolpersteine, die alle von mir recherchiert und initiiert sind. Auch an der Ecke Goldsteinstraße/Hahnstraße finden sich Stolpersteine für Zwangsarbeiter. Hier war auch die Firma Garny als kriegswichtiger Betrieb angesiedelt. Aus dem Lager in Kelsterbach wurden die Zwangsarbeiter nach Niederrad gebracht. Daher liegen hier die Steine.

TL: Sie haben historische Stadtteilrundgänge für Niederrad entwickelt?

RG: Ich wollte mein aufgearbeitetes Wissen gerne weitergeben. Eigentlich müsste ich ein Buch darüber schreiben, aber bis dahin bleibt mein Medium der Stadtteilrundgang. In Corona-Zeiten finden diese natürlich nicht statt. Bei so einem Rundgang der höchstens zwei Stunden dauern darf (lacht), kann man immer nur einen Teil der Geschehnisse aufarbeiten. Am Anfang haben meine Rundgänge auch mal drei Stunden gedauert, doch habe ich schnell bemerkt, dass es so nicht geht. Weder für mich, noch für die Teilnehmenden. Also habe ich die Bezirke aufgeteilt.

TL: Welche Bezirke sind da historisch relevant?

RG: Einmal der Bereich von der Holzhecke zur Niederräder Landstraße. Hier ging es hauptsächlich um die Vertreibung und Enteignung jüdischer Geschäftsleute, Professoren und Juristen. Die Villen auf der Niederräder Landstraße wurden enteignet und zu Schülerwohnheimen des Musischen Gymnasiums umgebaut.

Der zweite Rundgang ging rund um den Poloplatz, heute besser bekannt als das Gebiet rund um den Carl-von-Weinberg-Park herum. Den Poloplatz gibt es nicht mehr und das hatte mich dann angespornt herauszufinden, was es dort mit dem Poloplatz auf sich hatte. Auch die Geschichte der Weinbergs interessierte mich stark. Die Weinbergs waren patriotisch und monarchistisch eingestellt, doch es hat Ihnen alles nichts genutzt. Sie waren zwar protestantisch getauft, wurden jedoch durch die Nazis und ihre Rassegesetze zu Juden gemacht und anschließend enteignet.

Der dritte Rundgang beginnt am Haardtwaldplatz und geht raus in die Hahnstraße und auf den Friedhof zu den Zwangsarbeitern und ihren Schicksalen.

Der letzte Rundgang fängt ebenfalls am Haardtwaldplatz an und endet am Licht- und Luftbad, wo Juden  bis 1938 verboten war, baden zu gehen.

Bei Schulklassen mache ich dann kleinere Rundgänge, die dauern höchstens 45 Minuten. Die sind dann am Anfang ein wenig hippelig und zum Schluss dann doch ganz Ohr.

TL: Welches Ereignis aus den Stolpersteinverlegungen ist Ihnen besonders in Erinnerung geblieben?

RG: Einmal, bei der Verlegung eines Stolpersteins, kam plötzlich eine ältere Dame nach draußen, die dort wohnte. Sie erzählte, als sie damals noch zur Schule ging, hätte sie gesehen, wie ihre Nachbarin aus dem Haus geholt worden ist, von Männern in langen Mänteln. Die Frau wurde dann mehr geschleppt als geführt und anschließend in einen Wagen gesteckt.

In solchen Momenten bin ich dann natürlich geschockt und es läuft einem eiskalt den Rücken runter.

TL: Vielen Dank das Sie sich die Zeit für dieses Interview genommen haben und danke, dass Sie sich die Mühe machen, historisch relevante Fakten für unseren schönen Stadtteil aufzuarbeiten.

(Fotos & Text: TL)

 

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