BAHNHOFSVIERTEL | Professor Dr. Frank E.P. Dievernich hat sich die Zeit genommen, seine aktuellen Einschätzungen zur Entwicklung unserer deutschen Gesellschaft und im Speziellen auch gerade für Frankfurt mit uns zu teilen. Als Vorstandsvorsitzender der Stiftung Polytechnische Gesellschaft ist er sowohl analytisch als auch aktiv für Frankfurts Zukunft unterwegs.

Herr Professor Dr. Dievernich, Sie beschäftigen sich mit den gesellschaftlichen Entwicklungen und suchen nach Lösungsansätzen?
Ja, zumindest versuche ich das. Wir leben in einer merkwürdigen Zeit. Dem Durchschnitt der Gesellschaft geht es alles in allem doch eher gut – gerade auch im Vergleich mit anderen Ländern. Und dennoch scheint eine allgemeine Unzufriedenheit zu grassieren, vielleicht sogar zuzunehmen. Diese Unzufriedenheit führt aber nicht dazu, bei sich selbst mit Veränderungen anzufangen, sondern es wird nach jemandem gerufen, der es richten soll. Dabei könnte man selbst in seinem persönlichen Umfeld beginnen, an Lösungen zu arbeiten. Dafür müssen wir aber wieder aktiv werden. Das ist anstrengend – und bisweilen riskant, da wir ja nie wissen, wie der andere reagiert, wenn man ihn anspricht und motivieren will mitzumachen. Hinzukommt, dass wir derzeit zwar über sehr viele Meinungen verfügen, aber wir machen uns zu wenig Mühe, nach wirklichem Wissen Ausschau zu halten. Eine Meinung zu haben, ist leicht, Wissen aufzubauen ist aber mühselig. Das aber braucht es gegenwärtig. Wir müssen wieder lernen, richtig zu lernen und einander zuzuhören. Wir brauchen mehr Durchhaltevermögen!

Aber warum ist das so? Warum sind wir eher zu „Zuschauern“ geworden?
Wir leben in einem Land, welches immer mehr versucht, zu regeln. Darin sind wir gut. Das war das Erfolgsrezept der Vergangenheit. So wird alles abgesichert und versichert. Wir erdrosseln unsere kreativen und konstruktiven Geister durch Strukturen, die wir geschaffen haben. Denken Sie nur an unsere Bauverordnungen! Die Regeln lassen es gar nicht mehr zu, dass kostengünstig gebaut werden kann. Mit dieser Versicherungsmentalität wurden wir groß. Zuschauen ist da naheliegender, als mutig zu handeln. Uns ist das Risikonehmen, das Unternehmerische abhandengekommen.

Aber wie können wir dieser bequemen Gesellschaft das Streben nach Leistung wieder schmackhaft machen?
Unsere Gesellschaft braucht mehr Macher, Unternehmer und Vordenker, die Lösungen suchen und mit Gleichgesinnten ins Risiko gehen. Menschen, die Visionen und Ideen haben, die groß denken können – und dann fähig sind, auch gegen Widerstände, ins Handeln, sprich Umsetzen der Ideen zu kommen. Wir müssen damit im Kindergarten und den Grundschulen beginnen, Belohnungssysteme in Ausbildungsberufen, Hochschulen und Unternehmen entwickeln, die den Unternehmergeist fördern. Lange Rede, kurzer Sinn: Wir müssen in all diesen Systemen die besonders Begabten suchen, die dann auch besonders gefördert gehören.

Was meinen Sie damit?
Grundsätzlich glaube ich, dass in jedem Menschen ein Samen liegt, der es wert ist, dass er sich entwickelt. Die Palette der Talente ist vielfältig. Wir müssen alles dafür tun, diese Talente aus der Breite zu entdecken, dann aber gehören diese in speziellen Programmen besonders gefördert. Wir müssen wieder mutig sein und in die Spitze investieren. Hinzukommt, dass unser Schulsystem einen „blinden Fleck“ zu haben scheint: Es wird vor allem der Kopf gefordert. Handwerkliches Geschick hingegen wird gar nicht betrachtet, scheint aus der Mode gekommen zu sein. Aber wir brauchen doch gerade vor allem das Handwerk, um die Gesellschaft zukunftsfähig zu bauen. Deshalb wird hier die Stiftung Polytechnische Gesellschaft aktiv. So fordern wir mit der Handwerkskammer zusammen, dass der Werkunterricht an Frankfurter Schulen wieder ins Leben gerufen wird. Ergänzend zu den haptischen Fähigkeiten wollen wir auch die Themen Herzensbildung, Achtsamkeit und Sozialkompetenz mit ins Bildungspaket packen. Auch das brauchen wir für eine gute Zukunft. Wir müssen wieder besser miteinander umgehen lernen.

Das heißt Ihre Stiftung analysiert nicht nur? Sie handelt?
Ja, absolut – wir als Polytechnische sind Praktiker. Wir tun, was fehlt und nützt. Ein Beispiel: Als wir gemerkt haben, dass viele Frankfurter Grundschulkinder ein merkliches Sprachdefizit aufweisen, was sie daran hindert, ihr wahres Potenzial zu entfalten, haben wir den Deutschsommer ins Leben gerufen. Die Kinder erleben ein dreiwöchiges „Sprachbad“ und kommen mit ganz neuem Selbstbewusstsein und Sprachvermögen aus den Sommerferien in die dann vierte Klasse zurück. Der Deutschsommer wird inzwischen in ganz Hessen angeboten. Wir wollen als Stiftung mit unseren Programmen Vorbild sein. Gutes wurde schon immer kopiert und so ist meine Hoffnung, dass unsere bewährten Initiativen sich weiter ins Land verbreiten.

Welche Vision hat die Stiftung?
Wir wollen einen Beitrag dazu leisten, eine aufgeklärte, aktive und verantwortungsvolle Gesellschaft zu gestalten, die es schafft, menschenfreundliche Menschen hervorzubringen. Nochmal: Unsere Überzeugung ist, dass in jedem Menschen ein Stern liegt, der zum Funkeln gebracht werden muss.

Wenn wir uns nicht bewegen, dann werden wir von anderen bewegt. Ob das so angenehm ist, weiß ich nicht. Es ist wichtig, selbst aktiv zu sein. Dort, wo wir gesellschaftlich Defizite sehen, wünschen wir uns den Schulterschluss von Menschen, die Verantwortung übernehmen und handeln. Ein wunderbares Beispiel ist die Initiative von Bewohnern und Gewerbetreibenden im Bahnhofsviertel, die sich nicht frustrieren ließ und aktiv daran arbeitet, dem Bahnhofsviertel ein positives Image zu verschaffen. Ein weiteres Beispiel: Gemeinsam mit der Crespo Foundation, dem Kulturamt und weiteren Partnern haben wir ein Sonderprogramm zur Förderung der Frankfurter Kulturszene ins Leben gerufen, die unter der Pandemie arg gelitten hat. Für unsere Stiftung kann ich sagen: Wir warten nicht auf andere, wir fangen an. „Wir bauen am Wir!“, das ist unser Motto. Zuerst aus der Bürgerschaft vordenken, handeln – und danach die Politik einladen mitzumachen. Das ist die Kurzfassung unserer Stiftungsphilosophie.

Was ist Ihre Quintessenz für die positive Entwicklung unserer Gesellschaft?
„In Beziehung gehen“ und „Kümmern“ sind für mich die Schlüssel. Sich mit Menschen direkt auseinandersetzen, ist wichtig. Fragen stellen ist die relevante Basis des Miteinanders. Kenne ich die Motivation der anderen Person, kann ich sie nachvollziehen und darauf eingehen. Es entsteht eine kommunikative Verbindung. Ich glaube an die positive Weiterentwicklung, angestoßen durch Mitmenschen, die es riskieren, sich auf die Begegnung mit unbekannten Menschen einzulassen. Vorurteile würden verschwinden, wir würden nicht mehr übereinander reden, sondern miteinander – auch dann, wenn unterschiedliche Meinungen vorliegen. Das wäre dann eine friedlichere und bessere Welt. Wir haben die Wahl!

Vielen Dank, Herr Professor Dr. Dievernich, für den persönlichen Einblick in Ihre Arbeit und Ihre Haltung.

Über die Stiftung Polytechnische Gesellschaft

Die Stiftung Polytechnische Gesellschaft engagiert sich tatkräftig für die Menschen in Frankfurt am Main. In den Bereichen Bildung, Kultur, Bürgerengagement, Wissenschaft, Handwerk, Soziales und Demokratie realisieren und unterstützen wir Projekte, die die Persönlichkeitsentwicklung des Einzelnen fördern und die Teilhabe an der Gemeinschaft stärken. So leisten wir einen ganz praktischen Beitrag zu einer lebendigen und solidarischen Stadtgesellschaft – ganz nach dem Motto „Wir bauen am Wir“.
Weitere Informationen unter www.sptg.de.

(Text/Foto: BT)

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