SACHSENHAUSEN | Wie ist das mit der Ästhetik der wilden Natur, die nachgebaut und neu inszeniert wird? Was ist möglich im Spannungsfeld von Strahlung und Hoffnung? Fotografien voller Stärke spiegeln die unaufhaltsame Natur in der Region Fukushima. Sie transportieren aber auch indirekt die Wirksamkeit einer Familie, die sich der Aufzucht von außergewöhnlichen Baumgeschöpfen in Fukushima verschrieben hat.

Dem Fotografen und Filmemacher Norbert Schoerner begegneten per Fotografie zwei außergewöhnlichen Bonsais. Diese berührten ihn so sehr, dass er sich zur Familie Abe in die Bergregion Azuma in der Nähe von Fukushima aufmachte. Seit drei Generationen ziehen diese Meister, Kurakichi, sein Sohn Kenichi und sein Enkelsohn Da iki, Bonsais aus Samen. Dabei handelt es sich ausschließlich um Samen von Baumarten, die im Schatten des Vulkanberges Azuma-Kofuji zu finden sind. Für seine Fotografien stieg Schoerner auf den Berg und nahm eine Reihe von Landschaftsbildern auf. Davon ließ er Abzüge so großformatig anfertigen, dass wenn die Bonsais der Familie davor aufgestellt und im richtigen Licht fotografiert wurden, die Miniaturkiefern aussahen wie ausgewachsene Bäume. So brachte er indirekt die Bonsais wieder in ihre Landschaft zurück.

Die Idee zum Projekt in Japan teilte Schoerner ganz früh mit Kurator Professor Matthias Wagner K. Die Auffassung der Romantik, die Befreiung der Natur darzustellen, steht im Widerspruch zu der Kunst, Bonsais zu formen und zu Bauskulpturen zu entwickeln. Die zum Teil düster inszenierten Museumsräume fangen das Gefühl der Malerei von Casper David Friedrich auf und sind in der Fotografie weiterentwickelt. Die zum Teil großformatigen Bilder laden ein, sich der Stimmung hinzugeben und ganz persönlich zur Ruhe zu kommen. Das Ergebnis der Begegnung mit der Familie, zu der Schoerner über fünf Jahre immer wieder reiste, ist perfekt, wild, sanft und kraftvoll zugleich. Schoerner versteht es sogar die bittere „Verstrahltheit“ der Region in zwei Fotos, der in Müllsäcken verpackten und gelagerten, verstrahlten Muttererde, in die Ausstellung einzubinden. Auch ein Kurzfilm ist Teil des ausgestellten Werkes. Gedreht wurde auf einem verlassenen Bauernhof in der Nähe von Tomioka, Fukushima, etwa 15 Kilometer von dem Kernkraftwerk Daiichi entfernt. Schoerner hat hier das Grün einer Nachtsichtkamera verwendet, um die abstrakte allgegenwärtige Strahlung darzustellen, die die Flora und Fauna der ehemaligen Sperrzone durchdringt. Der Film zeigt gehörnte Rinder, die sich auf verlassenen Weiden von wuchernden Gräsern, die aus verstrahlter Zellulose bestehen, ernähren. Ein Rudel Hunde starren in die Kamera des Künstlers.

Norbert Schoerner (*1966) ist ein deutscher Fotograf und Filmemacher, der seit 1989 in seiner Wahlheimat London lebt. In den späten 1980er Jahren fotografierte er zunächst für das Magazin „The Face“. Neben Editorials für große Publikationen wie die Vogue, das NY Times Magazine oder die iD folgten Kampagnen für Modemarken wie Yoji Yamamoto, Prada, Shiseido oder Comme des Garçons. Als einer der ersten Fotografen überhaupt experimentierte Schoerner bereits in den 1990er Jahren mit den Möglichkeiten digitaler Postproduktion und der daraus entstehenden Darstellungsmöglichkeiten alternativer Wirklichkeiten. Seine Fotografien sind Erzählungen, die von kinematografischer Qualität gekennzeichnet sind.

Die von Professor Matthias Wagner K wunderbar kuratierte Ausstellung wird bis zum 18. September im Museum für angewandte Kunst erlebbar sein.

(Text: BT/PM, Fotos: BT)

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