HARHEIM | Ein kleiner Familienfachbetrieb für Flechtarbeiten findet sich mitten im Wohngebiet des Frankfurter Stadtteils Harheim. Wer hier her kommt, sieht erstmal eine Menge Stühle, kaputte Stühle, die darauf warten, repariert zu werden. Selten kommt es vor, dass jemand Silvia Gauf-Rotsching, Geschäftsführerin des Betriebs, etwas anderes als einen Stuhl bringt. Sie kann jedoch auch Tische mit Flechtung in der Mitte oder Heizungsabdeckungen aus Flechtgewebe reparieren.

Gauf-Rotsching wurde in den Betrieb geboren. Schon als Kind durfte sie ab und an mithelfen und hat so das Flechthandwerk von klein auf erlernt. Später machte sie bei den Eltern eine Ausbildung zur Flechtwerkgestalterin. Vor 25 Jahren übernahm sie den Betrieb von ihrem Vater. Aber nicht allein, ihr Mann beschloss, ebenfalls im Familienbetrieb mitzuhelfen. Gemeinsam versuchen sie das Flechthandwerk aufrechtzuerhalten. Oswald Rotsching kümmert sich hauptsächlich um die handwerklichen Arbeiten, er selbst hat das Flechthandwerk nicht erlernt. Mal muss ein Stuhl geleimt, mal etwas gehämmert werden.  Zusammen bilden sie ein starkes Team.

Das Flechthandwerk erlebt seit einigen Jahren einen echten Boom. Das Thema Nachhaltigkeit treibt viele Menschen an, alte Stühle, die beispielsweise von den Großeltern vererbt worden sind, doch restaurieren zu lassen, statt sie einfach wegzuwerfen.

Wer einen kaputten Stuhl mit Geflecht hat, kann per E-Mail ein Foto an die Harheimer Flechtwerkstatt schicken, um dort einem Kostenvoranschlag zu erhalten. Gauf-Rotsching ermittelt dann den ungefähren Zeitaufwand, der für den Stuhl benötigt wird. Durch ihre jahrelange Erfahrung kann sie dies bereits auf dem Bild erkennen.

Sobald das Finanzielle geklärt ist und der Kunde seinen Stuhl vorbeigebracht hat, geht die echte Arbeit von Familie Rotsching und ihren beiden Mitarbeitern los. Die alte Sitz- oder Rückenfläche wird entfernt und die Peddigrohr-Bänder werden Stück für Stück verarbeitet. Das Peddigrohr wird aus der Rattan-Palme geschnitten und ist somit ein reines Naturprodukt, das sehr widerstandsfähig ist. Daher kann auf diesen scheinbar schmalen „Rohren“ am Ende eine tragbare Sitzfläche entstehen.

Die Peddigrohre sind in verschiedenen Stärken und Farben erwerbbar. Die Bezeichnung der Farbe ist irreführend: Zwar werden die Peddigrohr-Halme als Rot-, Blau- und Geldband verkauft, jedoch sagt dies nichts über die tatsächliche Farbe des Bandes aus. Rotband ist für Hobbybastler, die sich zur Entspannung oder als Freizeitbeschäftigung gerne einen Korb flechten. Gelbband wurde zuvor gebleicht und ist daher schwierig einzufärben. Gauf-Rotsching benutzt nur Blauband, dieses ist qualitativ am wertvollsten und kann eingefärbt werden. Dass das Peddigrohr eingefärbt werden kann, ist sehr wichtig für die Arbeit der Stuhlflechterei. Meistens muss nur der Sitzbereich oder lediglich die Rückenlehne repariert werden. Das Peddigrohr, das von der Harheimerin genutzt wird, ist immer neu, dementsprechend ist es heller und muss anschließend eingefärbt werden.

Zwar besitzt Peddigrohr eine ganz natürliche Geschmeidigkeit, dennoch muss zum Flechten das Material vor Bearbeitung mit einem Schwamm angefeuchtet werden. Als Werkzeug nutzen Flechtwerkgestalter lediglich den Schwamm sowie zwei Scheren. Mit diesen werden die Rohre an die richtige Stelle gezogen und dann zu verschiedenen Mustern verarbeitet. Die wohl bekannteste ist das Wiener Wabengeflecht. Der Name des Musters kommt von seiner Ähnlichkeit mit Bienenwaben. Eine andere bekannte Flechtart ist die Dänische Kordel. Es gibt noch weitere weniger bekannte Flechtarten wie Binsengeflechte, Halb- und Vollsonnengeflechte – Gauf-Rotsching kann sie alle verflechten.

Doch leider ist das Flechthandwerk ein aussterbendes Handwerk. Für Rotsching war es immer schwierig, einen Praktikanten zu finden, geschweige denn einen Auszubildenen. Insgesamt wird in Deutschland zurzeit kein einziger Lehrplatz zum Flechtgestalter angeboten. Ein kreatives Handwerk, das erhalten bleiben sollte, denn wer wird in Zukunft kaputtes Flechtwerk fachmännisch reparieren und unsere Stühle herrichten können?

(Text & Foto: TL)

Vorheriger ArtikelAusstellung auf dem Roßmarkt
Nächster ArtikelAlte Bücher und Berühmtheiten auf dem Friedhof: Der Frankfurter Stadtteil Nordend