Das Interview mit Eva Szepesi ist wirklich beeindruckend – roh, ungefiltert, emotional dicht und ein ganz wichtiges Zeitdokument, verständlich lesbar, respektvoll gegliedert, aber ohne den Originalton zu verlieren.

Eva Szepesi wurde 1932 als Eva Diamant in Budapest geboren. Mit zwölf Jahren wurde sie
nach Auschwitz deportiert – und überlebte. Nach dem Krieg kam sie nach Frankfurt am Main, wo sie eine Familie gründete. Sie eröffneten ein Pelzgeschäft, wo sie als Pelznäherin mit ihrem Mann, der Kürschner war, arbeitete. Lange Zeit sprach sie nicht über das Erlebte. Erst 1995 begann sie, als Zeitzeugin öffentlich aufzutreten. Am 27. Januar 2024, dem Internationalen Holocaust-Gedenktag, sprach sie als Überlebende im Deutschen Bundestag.
Sie veröffentlichte zwei Bücher über ihr Leben: Ein Mädchen allein auf der Flucht (Metropol
Verlag) und das Kinderbuch: Ich war Eva Diamant (Ariella Verlag). Auch ihre Familie engagiert sich: Ihre Enkelin unterstützt sie in der Erinnerungsarbeit, ihr Enkelsohn drehte einen preisgekrönten Film über drei Generationen jüdischen Lebens. Im Februar 2025 war Eva Szepesi Gast in der ZDF-Sendung Markus Lanz – ein bewegender Auftritt, der viele Menschen berührte. Sie war bereits 2020 und zuvor 2018 mit Bärbel Schäfer zu Gast bei Markus Lanz.

Frau Szepesi, wie weit ist das alles für Sie entfernt – oder ist es bis heute gegenwärtig?

Es ist, als wäre es gestern gewesen. Nicht alles, aber vieles. Ich war zwölf Jahre alt. Und mit zwölf hat man Erinnerungen – man weiß, was passiert. Aber das, was ich erlebt habe, hat alles verändert. Ich war allein gelassen. Da war keine Kindheit mehr. Ich musste sofort erwachsen werden. Mein kleiner Urenkel war gerade zu Besuch. Er ist elf – fast so alt wie ich damals. Er hat gefragt: „Wenn du in Auschwitz alles abgeben musstest – wie hast du denn die Zähne geputzt?“ Ich habe gesagt: Ich hatte keine Zahnbürste. Es gab Schlimmeres, was ich nicht hatte.

Gab es im Lager überhaupt noch so etwas wie Menschlichkeit?

Nein. Jeder war mit sich selbst beschäftigt. Wer Hunger hatte, nahm dem anderen etwas weg – man dachte nur an das Überleben. Eine Aufseherin hat einmal zu mir gesagt: „Du bist sechzehn – versuch ja nicht, dich jünger zu machen.“ Das war wichtig, weil Jüngere oft direkt aussortiert wurden. Vielleicht hat mir dieser Satz das Leben gerettet. Aber solche Momente waren selten. Es war keine Menschlichkeit da. Es war nur Überleben.

Wussten Sie, wohin Sie kommen würden, als Sie deportiert wurden?

Nein. Meine Mutter hat mich auf die Flucht weggeschickt – mit meiner Tante, die 1942 aus der Slowakei nach Ungarn geflüchtet war. Sie wohnte bei uns, weil es dort schon große Deportationen gab. Meine Großeltern waren da schon mitgenommen worden und ermordet. Meine Mutter wusste bestimmt mehr, aber sie hat es mir nicht gesagt. Sie wollte mich schützen. Ich habe gedacht, ich fahre in den Urlaub. Sie versprach mir, dass sie mit meinem Bruder nachkommt. Ich habe immer auf Sie gewartet. Aber sie konnte nicht mehr.

Können Sie sich an Ihre Ankunft
in Auschwitz erinnern?

Ganz genau. Es war der 3. November, es war sehr kalt, Schnee lag. Ich kam ganz allein an. An diesem Abend gab es keine Selektion – vielleicht war das mein Glück. Sonst wurden Neuankömmlinge direkt aussortiert. Aber an diesem Abend nicht. Niemand wusste, was passiert. Man dachte, es ist ein Arbeitslager. Niemand konnte sich vorstellen, was es wirklich war.

Wie war der Moment der Befreiung?

Ich war sehr krank. Ich lag zwischen Leichen auf einer Pritsche. Ich konnte mich kaum noch bewegen. Plötzlich beugte sich ein russischer Soldat über mich – und er lächelte. Das war so seltsam. Vorher hatten wir nur schreiende Gesichter gesehen. Dann kamen polnische Ärzte vom Roten Kreuz. Sie brachten mich und andere in eine andere Baracke. Dort gaben sie uns Suppe und Brei. Aber nur wenig – weil viele starben, wenn sie zu viel aßen. Der Körper war das nicht mehr gewohnt. Ich hatte immer Hunger. Aber ich habe überlebt. „Wir bekamen nur Brei. Wenn man zu viel aß, starb man – der Körper war das nicht mehr gewohnt.“

Was geschah dann mit Ihnen?

Nach einiger Zeit kam ich mit einer Organisation zurück nach Budapest. Man fragte uns nach unserer Herkunft. Ich wurde auf eine Liste gesetzt und zurückgebracht. Ich sagte, meine Mutter wird mich bestimmt erwarten. Mein Onkel – der Bruder meines Vaters – hat mich am Bahnhof abgeholt. Er hatte mit seiner Frau überlebt. Sie hatten offenbar einen
Schutzbrief von Raoul Wallenberg erhalten, wie viele damals in Budapest. Er hat immer
geschaut, wer mit den Transporten zurückkommt. Und dann hat er mich gesehen. Er wusste nicht sicher, ob ich es war – es gab viele, die Diamant hießen. Aber ich bin ihm in die Arme gefallen. Ich habe nicht gefragt – ich habe nur mit den Augen gesucht: Wo ist
meine Mutter? Wo ist mein Bruder? Er hat verstanden. Er sagte: „Es kommen jeden Tag Transporte. Es kommen Überlebende. Wir werden warten.“ Und ich habe gewartet. Ich konnte nicht trauern. Ich hatte ja keine Gewissheit. Ich habe immer noch gehofft.

Und Sie haben tatsächlich erst viele Jahrzehnte später erfahren, was mit Ihrer Familie geschehen ist?

Ja. 2016. Meine Enkelin war 2015 mit einer Jugendgruppe beim Marsch der Lebenden –
von Auschwitz nach Birkenau. Danach sagte sie, sie wolle ein Jahr später mit der ganzen Familie noch einmal dorthin – mit ihrer Mutter, ihrem Vater, ihrem Bruder und mir. Ich wollte nicht. Aber sie hat mich gebeten, und am Ende bin ich mitgefahren. Wir waren in einer Baracke. Dort lagen große Bücher mit den Namen der ermordeten ungarischen
Juden. Meine Enkelin wusste den Namen meiner Mutter. Sie ist sofort dorthin gegangen,
hat gesucht. Ich habe mich auf eine Bank gesetzt. Dann kam sie zu mir und sagte: „Oma, ich hab deine Mutter gefunden!“ Ich habe gesagt: „Das glaube ich nicht.“ Aber sie zeigte es mir. Geburtsjahr: 1908. Unser Straßenname. Alles stimmte. Ich stand auf, ging zu den Seiten – und da war auch mein Bruder. Geboren in Budapest, Name Diamant. Ich war wie betäubt. Meine Tochter sagte: „Vielleicht ist das gut so. Vielleicht kannst du jetzt eine
Kerze anzünden. Du kannst jetzt trauern.“ Und so war es. Seitdem kann ich trauern. Vorher habe ich nur gewartet.

Wie ging Ihr Leben nach dem Krieg weiter?

Mein Onkel und meine Tante haben mich aufgenommen. Sie lebten in einer Wohnung, die ich von früher kannte – wir waren oft zu Besuch gewesen, als ich noch ein Kind war. Niemand hat gefragt. Ich habe nicht gefragt. Mein Onkel hat nicht gesprochen. Wir haben
einfach geschwiegen. Das Thema war vorbei – als hätte es das alles nie gegeben. Die Schwester meines Vaters hat überlebt und wurde von meinem Onkel ebenfalls aufgenommen. Ihre Töchter – meine Cousinen – wurden ermordet. Ich habe dann gefragt: Wo sind meine Cousinen? Meine Tante hat nur gesagt: „Ab heute bist du mein Kind.“ „Und am nächsten Tag musste ich in die Schule. Ich war schon angemeldet.“ „Ich sage den Schülern immer: Ihr habt keine Schuld – aber Verantwortung.“

Haben Sie damals über Auschwitz gesprochen?

Nein. Nie. Ich habe nicht einmal meine Häftlingsnummer gezeigt. A-26877 – die habe ich gepudert, versteckt, unter langen Ärmeln. In Ungarn hat niemand gesprochen. Es war Kommunismus, Neuaufbau. Man wollte nichts hören. Auch ich nicht. Ich habe gewartet – auf meine Mutter, auf meinen Bruder. Ich konnte nicht trauern. Ich habe gedacht: Sie
kommen noch.

Wann haben Sie begonnen, öffentlich über Ihre Geschichte zu sprechen?

Erst 1995 – zum 50. Jahrestag der Befreiung. Ich wurde eingeladen, nach Auschwitz zu fahren. Ich wollte nicht – aber meine Töchter haben auf mich eingeredet. Am Ende bin ich gefahren. Damals war noch vieles nicht dokumentiert – die Namen meiner Mutter
und meines Bruders standen noch nicht in den Büchern. Aber der Anfang war gemacht. Ab da habe ich angefangen zu erzählen. In Schulen. Bei Veranstaltungen. Und dann, viele Jahre später, auch im Bundestag.

Wie kam es zu Ihrer Rede im Bundestag?

Ich wurde von mehreren Seiten vorgeschlagen. Dann wurde Kontakt zu meiner Lektorin aufgenommen – wir hatten zusammen mein Buch gemacht: Ein Mädchen allein auf der Flucht. Ich habe Hilfe gebraucht beim Schreiben – Deutsch war nie meine Muttersprache.
Aber wir haben das gemeinsam geschafft. Und dann kam die Einladung aus dem Bundestag. Das war eine große Ehre. Und eine große Verantwortung.

Gab es je eine Entschuldigung vom Staat?

Nicht wirklich. Atze Schröder war der Erste, der sich öffentlich entschuldigt hat – er sagte: „Ich war nicht dabei, aber mein Vater war in der Wehrmacht. Wenn er heute leben würde, würde er sich bei Ihnen entschuldigen.“

Sie sprechen auch regelmäßig in Schulen. Wie erleben Sie die jungen Menschen?

Sehr aufmerksam. Man könnte eine Stecknadel fallen lassen. Die Lehrer sagen manchmal: „So still haben wir die Klasse nochnie erlebt.“ Viele Schüler schreiben mir danach. Sie sagen: „Wir werden Ihre Zeugen sein.“ Oder: „Wir werden das weitertragen.“ Und sie kommen nach dem Gespräch zu mir, wollen mich umarmen, mir noch etwas sagen. Das gibt mir Kraft. Aber ich kann leider nicht mehr überall hin.

Und doch gibt es wieder Stimmen, die den Holocaust leugnen. Wie gehen Sie damit um?

Das ist das Schlimmste. Dass Menschen sagen, das alles habe es nicht gegeben – obwohl wir noch leben, wir, die es erlebt haben. Ich sage immer: Nur Aufklärung kann helfen. Bildung. Lehrerinnen und Lehrer, die sich engagieren. Und ja, es gibt solche – nicht viele, aber es gibt sie. Einige bringen ganze Gruppen nach Auschwitz. Sie machen das mit großer Kraft. Aber es braucht mehr. Auch von der Politik. Auch von der Gesellschaft. Man darf nicht
wegschauen. Denn so hat es damals angefangen.

Wie erleben Sie Antisemitismus heute – ganz konkret?

Nach dem 7. Oktober 2023 brauchte ich vorübergehend Polizeischutz. Leider ist das nichts
Neues: Meine Kinder, Enkel und Urenkel brauchen bis heute Polizeischutz vor jüdischen Schulen. Mein Urenkel sagt morgens zuerst dem Polizisten Guten Morgen, dann dem Lehrer.

Frau Szepesi, was möchten Sie den jungen Menschen heute mitgeben?

Ich sage den Schülern immer: Ihr habt keine Schuld – aber Verantwortung. Ihr müsst wachsam sein. Nicht alles glauben, was man euch sagt. Schaut nach, woher die Information kommt. Teilt nichts einfach blind. Fragt nach. Denkt nach. Wenn ihr das tut – dann kann sich Geschichte nicht so leicht wiederholen. „Ohne Vergangenheit gibt
es keine Zukunft.“

Was wünschen Sie sich – für die nächsten Jahrzehnte?

Dass niemand vergisst!

(Interview: Normann Schneider / Foto: Der Frankfurter)

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