Christopher George: Herr Vieth, Sie sind ein echtes Urgestein in Alt-Sachsenhausen. Was verbinden Sie mit dem Viertel?

Jürgen Vieth: Zuallererst einmal natürlich die hier ansässige Gastronomiekultur, der Apfelwein und natürlich die berühmte „Grie Soß“, die leckere traditionelle grüne Soße aus den sieben Kräutern Borretsch, Kerbel, Kresse, Sauerampfer, Schnittlauch, Pimpinelle und Petersilie. Dazu gehören dann selbstredend auch Attribute wie gemeinsam ausgehen und Spaß haben und natürlich auch entspannt einen Schoppen trinken. Hier gibt es generationsübergreifend für jeden etwas, das ist etwas, was oft totgeschwiegen oder von anderen Meldungen übertüncht wird. Im Grunde ist Alt-Sachsenhausen ein Dorf, alle Anwohner kennen sich, hier leben viele Kulturen friedlich zusammen und man hat tatsächlich auch einen hohen Bevölkerungsanteil gehobenen Alters. Gerade die wollen auch nicht mehr umziehen, nicht weil sie nicht könnten, sondern weil sie sich traditionell mit ihrem Viertel verbunden fühlen und es lieben. Ich selbst stamme ursprünglich aus Bornheim, inzwischen bin ich dem Quartier aber schon seit mehr als 40 Jahren treu. Dieses Sachsenhausen trage ich im Herzen.

Da Sie ja schon so lange hier ansässig sind – wie hat sich das Viertel im Laufe der Zeit aus Ihrer Sicht gewandelt?

Zu meiner Jugend hatte Alt-Sachsenhausen als Ausgehviertel gerade überregional eine wahnsinnige Strahlkraft. Wir waren mit unserer Kneipendichte eigentlich konkurrenzlos in der Region. Im Wandel der Zeit veränderten sich dann andere Viertel wie Bornheim zu eigenen Ausgehvierteln, was den Konkurrenzdruck erhöhte. Man darf auch nicht vergessen, dass wir bedingt durch unsere Lage eigentlich gehandicapt sind. Andere Vergnügungsviertel, beispielsweise in Köln oder Düsseldorf, warten mit hunderten Parkplätzen vor Ort auf. Das war spätestens mit dem Bau des Florentinerviertels auf dem ehemaligen Schlachthofgelände, auf dem davor hunderte Parkplätze am Main waren, erledigt Im Wandel der Zeit kam zusätzlich zu der breiter aufgestellten Auswahl in den anderen Stadtteilen noch der Umstand, dass die amerikanischen Soldaten nach und nach aus Deutschland abzogen. Diese Zeit, die Viele als die „glorreiche Zeit des Viertels“ sehen, war im Grunde genommen aber vor allem für die Wirte schön. Die Amerikaner haben den Gastronomen regelmäßig ordentliche Umsätze beschert, aber man darf nicht vergessen, dass es auch damals schon immer wieder ordentliche Reibereien gab, bei der dann und wann auch mal die Militärpolizei eingreifen musste. Trotzdem entstand durch den Abzug der amerikanischen Truppen erst einmal ein Loch, das mit neuen Gästen „aufgefüllt“ werden musste. Wer da erkannt hat, dass man entgegen der „Frankfurter Schnauze“ – die der Frankfurter Bürger vielleicht als Kult versteht, aber ein Tourist eher als Unfreundlichkeit auffasst – Tradition und Moderne verbinden kann, der bleibt am Ball und damit auch am Markt. Generell ist Alt-Sachsenhausen schon immer sehr wandlungsfähig und am Puls der Zeit gewesen. Das kann man mögen, oder nicht, aber man sieht die Trends des Öfteren zuerst hier, bevor sie sich in der ganzen Stadt manifestieren. Als Beispiel könnte man die ersten Dönerbuden, aber auch die Shishabars nennen, das Hooters oder auch die Ansiedlung von Musiklokalen.  Wir brauchen den Vergleich mit den anderen Ausgehvierteln heute nicht scheuen, beim Bierumsatz stehen wir ähnlich da – wenn wir das Oktoberfest in München mal außen vor lassen. Der Vorteil an Alt-Sachsenhausen lag schon jeher an der Kleinteiligkeit der Kneipen. Eigentlich aus der Not heraus, dass keine größeren Flächen verfügbar sind, ist eine Tugend entstanden; die Leute genießen das „Barhopping“ hier, laufen von Kneipe zu Kneipe und schätzen die breite Auswahl. Hier ist für jeden etwas dabei. Das war schon immer so und ist es bis heute geblieben. Ich denke auch, dass in der Zeit nach der Pandemie die Leute erst einmal in kleineren Gruppen, in denen man sich und vielleicht sogar den Wirt kennt, zusammenkommen, statt sich direkt mit hunderten Unbekannten ins Getümmel zu stürzen.

Stichwort Musik: Mit dem Spritzehaus hat eine Bastion der Livemusik in Alt-Sachsenhausen bereits vor Corona schließen müssen. Wie sehen Sie die Chancen, dass dieses Thema wieder neu aufgelegt werden könnte?

Mit dem Elfer Musikclub und dem neu umgebauten Ponyhof haben wir zwei sehr umtriebige Clubs in Alt-Sachsenhausen, die mit viel Hingabe die Bandbreite in Alt-Sachsenhausen erweitern. Ich selbst würde absolut begrüßen, wenn wir künftig wieder mehr Angebot hätten – in meinen Gaststätten bespiele ich das Thema auch mal mit einem traditionellen Akkordeonspieler, aber es muss natürlich immer auch zum Konzept des Ladens passen.

Sie haben ja mit dem „Oberbayern“ ein sehr erfolgreiches Konzept im Stadtteil etabliert. Wie kam es dazu?

Anfang der 90er-Jahre war ich Gastronom in der Kult-Kneipe „Gaslicht“. Auch hier funktionierte schon das musikalische Konzept, dass ich dann vor 28 Jahren mit dem Oberbayern in Gänze aufgegriffen habe. Konzept, das heißt immer eine gute Mischung aus traditionellem Schlager, Partymusik und Chart-Hits. Das Oberbayern richtete ich dann konzeptionell komplett nach diesem Thema aus. Der Vorteil hierbei ist, dass es den 18-jährigen wie den 50-jährigen gleichermaßen anspricht und du genau weißt, was dich erwartet. Hier bekommst du keine Mogelpackung und das Ganze ist absolut zeitlos – das sieht man daran, dass wir diese Tradition 28 Jahre lang bis heute durchgezogen haben. Man kann also sagen, dass das ein echtes Erfolgsmodell war und ist. Zusätzlicher Vorteil ist, dass schon immer über die Hälfte meiner Mitarbeiter einen Migrationshintergrund haben und damit auch ein ziemlich gutes Abbild unserer multikulturellen Gesellschaft, die wir hier in Frankfurt haben, abbilden konnten. Hier fühlen sich viele wohl und alle sind willkommen, solange sie sich ordentlich benehmen – deshalb gab es in meinen Betrieben in all den Jahren nie nennenswerten Stress. Auch andere Betriebe halten seit Jahrzehnten die Stellung im Viertel, es ist also falsch, wenn man behauptet, die Fluktuation wäre hier in Alt-Sachsenhausen eine wesentlich größere als in anderen Ausgehvierteln Deutschlands. Das Erdnüsschen gibt es beispielsweise seit über 40 Jahren, den eisernen Hahn seit fast 50, und dann wären da noch das Rusticana, der Klaane Sachsenhäuser und viele andere Gastronomiebetriebe und Kneipen. Man kann also sagen, wenn man ein ordentliches Konzept und die passende Zielgruppe hat und das Ganze durchzieht, hat man hier auch langfristig gute Chancen.

Sie haben als Gastronom mehrerer Betriebe und Anwohner auch die Initiative AltSaxNeu ins Leben gerufen. Was genau hat es mit diesem Konzept auf sich?

Bei der Initiative geht es darum, Gastronomen miteinander zu vernetzen und gemeinsam Entscheidungen zu treffen, um das Viertel aktiv positiv zu beleben. Das können kleine Dinge sein, wie das Aufstellen von frischen Blumen in Balkonkästen und ein neuer Farbanstrich an der Wand, aber auch die konkrete Umsetzung von Maßnahmen zur Vermeidung von Müll, Plastiknutzung und Glasbruch – was leider in jedem Vergnügungsviertel ein Thema ist. Mit der Verschönerung an vielen Stellen und aufmerksamen Augen von Gastronomen, Pächtern und Vermietern kann man gemeinsam natürlich mehr erreichen als allein auf weiter Flur. Wir sind hier auf einem guten Weg, aber man darf natürlich Äpfel nicht mit Birnen vergleichen. Alt-Sachsenhausen ist halt ein Ausgehviertel – das hat auch eine sehr lange und für Frankfurt relevante Historie, deren Geschichte an dieser Stelle aber sicherlich den Rahmen sprengen würde.

In Kooperation mit der Initiative haben Sie auch zwei Veranstaltungsserien ins Leben gerufen, um das Viertel weiter zu beleben.

Konkret haben wir einen heimeligen Weihnachtsmarkt etabliert, der vor allem auf Familien mit Kindern zielt – mit Streichelzoo, Kinderprogramm, gemeinsamen Singen, Nikolausbesuch und historischem Karussell. Da war regelmäßig richtig was los und es ist schön zu hören, dass viele Familien nach dem ersten Besuch ihr Bild vom „verruchten“ Alt-Sachsenhausen danach komplett neu definiert haben. Hier gibt es eben nicht nur Junggesellenabschiede und Shishabars. Genau das wollten wir damit zeigen. Noch besser konnte man das Ganze auf unserem Freitagstreff beobachten, ebenfalls eine Veranstaltungsserie in Kooperation mit AltSaxNeu. Hier haben wir in den letzten Jahren jeden Freitag eine kleine, gemütliche Marktatmosphäre auf dem Paradiesplatz geschaffen, mit Sitzplätzen, leckerem Gastronomieangebot und netten Gesprächen. Ein Ort, an dem man sich gerne trifft. Insbesondere die Anwohner und vor allem auch unsere ältere Klientel haben das sehr gerne wahrgenommen. Gerade die Senioren haben sich über das Angebot sehr gefreut und waren sogar bei Wind und Wetter unsere treuesten Gäste. Das ist schön zu sehen – aber man muss bei der Organisation einer solchen Veranstaltungsserie natürlich gewillt sein, auch ein unternehmerisches Risiko zu einzugehen, ins Tun kommen – und nicht sprichwörtlich auf „besseres Wetter“ zu warten.

Neue Konzepte bringen meist auch neue Zielgruppen ins Quartier. Wie begegnen Sie dem Ganzen aus gastronomischer Sicht?

In unserer „Frau Rauscher“ direkt neben dem gleichnamigen Brunnen in der Klappergasse kochen wir zwar die klassischen traditionellen Speisen, die man so erwartet, bieten aber auch  Themenspecials an, wie beispielsweise ein Apfelweintasting für geschlossene Gesellschaften in der Äpplergalerie gegenüber. Auch hier hat sich der Gaumen und die Nachfrage – Tradition hin oder – insofern angepasst, dass wir, wie andere Gastronomen auch, sortenreine Apfelweine anbieten. Hier wird ein Messegast oder ein Tourist auch freundlich bedient, wenn er den Apfelwein lieber süßgespritzt trinkt und man sitzt zwar auf klassischen Bänken, die aber gepolstert sind. Das hätte es bei dem ein oder anderen Traditionalisten sicher nicht gegeben. Ich kenne Leute, die wurden rausgeschmissen, wenn sie eine Flasche Wasser zum Bembel Apfelwein bestellt haben. Das ist allerdings ein Wandel, den viele Betriebe hier vor Ort bereits erkannt haben und mitgehen. Dazu kommt, dass den Gästen auch die Herkunft ihres Essens immer wichtiger ist. Unsere Kräuter kommen ausschließlich aus einer Oberräder Gärtnerei, der „grünen Lunge Frankfurts“ und mit dem „Grüne Soße Schwein“ haben wir ein echtes Exklusivprodukt in der Apfelweingastronomie. Es handelt sich hierbei um Schweine, die auf einem Biobauernhof in der unmittelbaren Region unter höchsten Tierwohlvorgaben gehalten und mit kiloweise grüne Soße Kräutern gefüttert werden. Ein echtes, hessisches Glücksschwein!

Welche Pläne haben Sie persönlich nach dem Abflauen der Pandemie für Alt-Sachsenhausen?

Wir wollen versuchen, an den Erfolg des Freitagstreffs weiter anzuknüpfen und vielleicht sogar auf den Samstag zu verlängern. Dazu soll es wieder ein reichhaltiges Speisen- und Getränkeangebot geben; aber auch hier wollen wir wieder das Traditionelle mit dem Neuen verbinden. So haben wir in Zusammenarbeit mit einem Frankfurter Metzgerbetrieb in 5. Generation eine „From Nose To Tail“ Bratwurst aus unserem „Grüne Soße Schwein“ entwickelt. Das bedeutet, wir verwerten alles Verwertbare – inklusive Edelteile wie Filets –  aus dem Schwein und machen daraus eine leckere Edelwurst. Es wird dann vier verschiedene Geschmacksrichtungen geben, durch die sich jeder – wenn wir wieder öffnen dürfen – gerne durchprobieren kann. Die erste Verkostungsserie mit Kräuterbratwurst, Handkäsbratwurst, Fenchel Salsiccia und Caprese-Style kam schon einmal sensationell bei den Testessern an, man darf also auf jeden Fall gespannt sein!

Herr Vieth, wir danken Ihnen für das Interview und freuen uns schon, hoffentlich schon bald auf dem Freitagstreff ein paar Ihrer Würste bei sortenreinen Apfelweinen probieren zu können!

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