LIGA Frankfurt diskutierte beim Politischen Abend über Auswirkungen des Personalmangels in der Sozialen Arbeit
Die LIGA der Freien Wohlfahrtspflege Frankfurt am Main (LIGA Frankfurt) lud am 02.09.2025 erstmals zu einem Politischen Abend unter dem Motto „Stadtgesellschaft im Dialog“ ein. Das in der Evangelischen Akademie diskutierte Thema betrifft alle: „Systemrelevant – Systemgefährdet: Wenn sozialer Arbeit die Menschen fehlen.“
Zahl der Arbeitskräfte wird um ein Drittel zurückgehen
Was das bedeutet macht Diakoniepfarrer Markus Eisele, Vorsitzender der LIGA Frankfurt, gleich zu Anfang deutlich: „Deutschlandweit arbeiten zwei Millionen Angestellte im Sozialwesen in rund 120.000 Einrichtungen von Kindergärten bis zu Pflegeheimen. Dazu kommen noch Auszubildende, Honorarkräfte, Mini-Jober:innen und rund 3 Millionen Freiwillige. Ein enormer Wirtschaftsfaktor.“ Doch bis 2036 wird Prognosen zufolge die Zahl der Arbeitskräfte in Deutschland um 30 Prozent sinken, stark betroffen sind die sozialen Berufe. Um diese Situation gut zu gestalten, bedarf es entschiedener und weitreichender Maßnahmen von vielen Akteuren und auf vielen Ebenen. „Gefragt ist ein Management by design statt eines Managements by desaster“, so Markus Eisele.
Das Sozialwesen ist ein starker Demokratiefaktor
Unter den Gästen waren Frankfurts Bürgermeisterin Dr. Nargess Eskandari-Grünberg, Stadtverordnetenvorsteherin Hilime Arslaner, Kämmerer Bastian Bergerhoff und Planungsdezernent Marcus Gwechenberger. Sozialdezernentin Elke Voitl freute sich über das Interesse: „Das Thema hat Gewicht in der Stadt“, sagte sie. Und: „Sozialpolitik ist das Fundament für das Zusammenleben in Frankfurt und zugleich auch ein Imagefaktor.“ Markus Eisele nannte den Sozialsektor einen „echten Demokratiefaktor“, gegenwärtig werde die Soziale Arbeit allerdings vielfach als „Kostenfaktor“ gesehen. Er mahnt: „Wir stabilisieren die Gesellschaft, unsere Arbeit sollte niemand schlecht reden.“
Der Baum brennt, auch weil seine Wurzeln vertrocknen
In seiner einleitenden Keynote zeigte Professor Dr. Ingo Bode von der Universität Kassel Trends auf, die den sozialen Sektor unter Druck setzen: sei es die Entwicklung von Bedarfs- zur Erwerbswirtschaftlichkeit oder die extern getriebene Flexibilität (Stichwort: „Projektitis“). Oben drauf komme der Personalmangel. Zugleich stiegen die Bedarfe an sozialer Intervention schneller als die Angebote und der Wohlfahrtsstaat arbeite an den Problemen eher halbherzig, er komme zu spät oder repariere an den falschen Stellen. Dies sei eine „Teufelsspirale im Problemdschungel“. Seine Diagnose: „Der Baum brennt, auch weil die Wurzeln vertrocknen“.
Aufhören, sich gegenseitig Fachkräfte abzuwerben
In Zeiten hoher Fluktuation bei Fachkräften, emotionaler Erschöpfung und Managementstrategien, die zwischen Rückhalt geben und autoritärem Auftreten in Krisensituationen schwankten, nannte der Wissenschaftler als Lösungsansätze: In den Einrichtungen klare Prioritäten zu setzen, im Team offen über Heraus- und Überforderungen zu sprechen – und vor allem die Konkurrenzmentalität im sozialen Sektor zu überwinden. „Kommen Sie ins Gespräch, genau wie es heute Abend geschieht“, rief Bode den rund 70 Gästen zu. Und er ermutigte die Zuhörenden, die selbst vielfach im sozialen Sektor arbeiten mit dem Satz: „Es ist Nonsens, dass die Gesellschaft keine finanziellen Ressourcen hat.“ Das Sozialwesen sei zudem beliebt: „Der Schatz muss nur gehoben werden“.
Auch Nanine Delmas, die Leiterin des Frankfurter Jugend- und Sozialamtes, war Teil des Publikums. In einer Publikation spricht sie sich gegen das gegenseitige Abwerben von Fachkräften aus, das sie als Kannibalisierung bezeichnet.
Laut Franziska Zühlsdorff, Regionalgeschäftsführerin von Der Paritätische Frankfurt am Main und baldiger LIGA-Vorsitzenden, sei ein Paradigmenwechsel nötig: „Wir müssen die Qualität für die Menschen, die unsere Unterstützung suchen, versuchen zu halten“. Sie plädierte dafür, den Trägern mehr Flexibilität bei der Anstellung von Quereinsteiger:innen zuzutrauen und auf deren Expertisen bei der Auswahl von Personen zu setzen, die intern weitergebildet werden können. Dazu gehöre auch die Anerkennung von Abschlüssen aus dem Ausland.
Der Moderator des Abends, Feridun C. Öztoprak, fragte nach Möglichkeiten für einen stärkeren Schulterschluss zugunsten des Sozialwesens und nach Utopien. Professor Dr. Ingo Bode sprach von der „politischen Schlagrichtung aus Berlin“, die problematisch sei und einen „Herbst der Grausamkeiten“ erwarten lasse. Das Gebot der Stunde sei es, Einigkeit mit der politischen Mitte zu suchen. Da das Sozialwesen die Lösung für viele gesellschaftliche Probleme sei, wäre es wichtig, eine Kampagne zu machen und extrem viele Ressourcen in den Sozialen Sektor zu geben. „Einen Wumms da reinzustecken, wäre meine Utopie.“ Markus Eisele setzt auf eine „Kulturveränderung“: Die Träger und Verbände sollten mehr aufeinander zugehen und mit der Stadt als Lösungspartnerin ins Gespräch gehen. Während Amtsleiterin Nanine Delmas am liebsten in allen 40 Frankfurter Quartieren Quartiersmanagements etablieren und mit eigenen Budgets investieren würde, um das Zusammenleben dort zu verbessern, sagt Steffen Krollmann von der AWO: „Wir Träger stehen immer im Wettbewerb, aber in der LIGA Frankfurt sind wir solidarisch. Ich bin optimistisch und dankbar, in Frankfurt zu sein, hier gibt es ganz viele schlaue Köpfe.“
Foto: LIGA Frankfurt